Zur Missionstätigkeit der katholischen Kirche (I)

Interview mit Dr. Hubertus Schönemann, Leiter der Arbeitsstelle für missionarische Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz

Schwab: Ich freue mich sehr, dass Sie, Dr. Hubertus Schönemann, für ein Interview zur Verfügung stehen. Welche drei Wörter kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an den Begriff ,Mission‘ denken?

Dr. Schönemann: Leben; Loslassen; Lernen. 

Schwab: Sie sind Leiter der Arbeitsstelle für missionarische Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz. Welchen Auftrag und welche Aufgaben hat Ihre Arbeitsstelle?

Dr. Schönemann: Die katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) wurde vor zehn Jahren gegründet. Sie hat die Aufgabe, die Bistümer der katholischen Kirche in Deutschland bei den derzeitigen Transformationsprozessen zu unterstützen und zu begleiten. Diese Prozesse finden oftmals unter der Überschrift ,missionarisch Kirche sein‘ statt. Dabei geht es darum, wie Kirche in einer veränderten Zeit auf neue Weise wirksam werden kann. Es ist unsere Aufgabe, mitzuhelfen, dass die Sendung der Kirche reflektiert und diese Sendung im Selbstbild, im Handeln sowie in der Gestalt der Kirche deutlicher erkennbar wird. Wir beobachten gesellschaftliche und kirchlich-pastorale Entwicklungen und stellen Deutungskategorien zur Verfügung. Außerdem versuchen wir, mit Verantwortlichen in den Bistümern pastorale Handlungsoptionen zu erarbeiten. Wir befassen uns mit neuen Perspektiven für Katechese und Verkündigung. Darüber hinaus haben wir ein Referat für Evangelisierung und Digitalisierung, das sich mit der Bedeutung einer Kultur der Digitalität für Evangelisierung und kirchliche Transformation befasst. 

Schwab: Mission ist derzeit nicht nur in diversen Freikirchen ein aktueller und angefragter Begriff. Weshalb ist Mission auch in der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum wieder populär?

Dr. Schönemann: Mission war im Laufe der Kirchengeschichte nie ganz weg, wurde aber sehr unterschiedlich verstanden und ausgeübt. Mission war in den letzten 50 Jahren in einer Situation der Volkskirche vielleicht ein bisschen vertrocknet oder unterentwickelt. Aber wir leben jetzt in einer Zeit, in der das Kirchliche, wie es sich darstellt, sehr stark unter Druck kommt, weil sich auch die Gesellschaft sehr stark verändert, und dies beschleunigt seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Wir sind in einer fundamentalen Zeitenwende, in einem Übergang eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels. Menschen verstehen sich heute anders, sie leben anders, sie agieren anders, was natürlich auch Auswirkungen auf Religion, Glaube und Kirche hat. Das ist eine richtige Umwälzung. Eine überkommene Gestalt von Kirche geht offensichtlich dem Ende zu und es gibt neue Gestalten des Christlichen. Deswegen ist das Thema Mission vielleicht jetzt gerade wieder aktuell. Wir müssen beobachten, welche neuen Gestalten von Glauben, Christsein und Kirche sich entwickeln. Es geht darum, christliches Leben als Entdeckung und ,Darstellung‘ des Evangeliums immer wieder in eine neue Zeit zu inkulturieren. Solche Zeitenwenden hat es aber immer wieder gegeben. Das Nachdenken über Mission stellt die Frage, wozu die Kirche da ist und was ihr Auftrag ist. Die Kirche ist beauftragt, Menschen für die Berührung durch den lebendigen Gott zu öffnen und die Botschaft des Evangeliums neu zu entdecken. 

Schwab: Das Panorama gegenwärtiger Missionsbewegungen in der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum ist vielfältig und schwer zu überblicken. Können Sie dieses Panorama an derzeitigen missionarischen Initiativen und Bewegungen systematisieren, indem Sie einzelne Strömungen und deren Merkmale benennen. 

Dr. Schönemann: Mission ist ein Prozess, der die gesamte Kirche meint und verändert und nicht nur einzelne Strömungen in ihr. Alle Christ*innen, egal ob sie Amtsträger sind oder Getaufte, nicht nur besondere Missionar*innen, sind Teil dieser Bewegung des Missionarisch-Werdens, die die Sendung der Kirche neu interpretiert. Die deutschen Bischöfe erläuterten im Jahr 2000 im Papier ,Zeit zur Aussaat – missionarisch Kirche sein‘[1] und 2015 in ,Gemeinsam Kirche sein‘[2] ihre Vorstellungen von Kirche und Pastoral in Gegenwart und Zukunft. Mission ist ein Prozess der Erneuerung der gesamten Kirche. Zunächst nenne ich Seelsorgefelder, die sich in gesellschaftlichen Bereichen realisieren. Solche Kategorial-Pastoral, wie zum Beispiel Krankenhausseelsorge, Militärseelsorge, City-Pastoral gibt es schon länger. Sie zeigen, dass die Kirche in den Lebenskontexten von Menschen präsent ist und sich in gesellschaftlichen Feldern einbringt. Weiterhin gibt es Anregungen aus der Weltkirche. Wir können uns von Erfahrungen von kleinen christlichen Gemeinschaften in Afrika oder in Asien inspirieren lassen. Diese neue Art Kirche zu sein, ist geprägt von einem intensiven Umgang mit der Heiligen Schrift als Ort der Mitte, in der Menschen Christus begegnen. Dabei wird auf unterschiedliche Formen von Beteiligung Vieler Wert gelegt. Des Weiteren zeigen sich Gründer-Initiativen ‚frischer‘ Ausdrucksformen von Kirche aus der Anglikanischen Tradition (fresh expressions of Church). Wir müssen in Deutschland prüfen, welche Anregungen wir aufnehmen und möglicherweise für uns neu akzentuieren können. Darüber hinaus würde ich die Initiative der Neuen Evangelisierung nennen. Der Begriff stammt ursprünglich von Johannes Paul II. und wurde dann durch Benedikt XVI. mit einem eigenen päpstlichen Rat gestärkt. Demnach sind viele Christ*innen zwar schon evangelisiert worden, aber dann irgendwie ,lau‘ im Glauben geworden und haben sich ,vom Leben der Kirche entfernt‘. Es geht darum, Glauben zu erneuern und sie wieder ,heranzuholen‘. Einige Bistümer in Deutschland begreifen diesen Aspekt der Neuevangelisierung für sich als zentrales Modell geistlicher Erneuerung und kirchlicher Entwicklung. Außerdem gibt es eher neo-charismatisch, fast evangelikal orientierte Bewegungen, die oft eine pfingstliche Spiritualität praktizieren. Es finden sich auch traditionale Gemeinschaften und Bewegungen, die sich der Mission verschreiben. Teilweise sind auch Vermischungen zu beobachten. Beispiele sind Totus Tuus, Chemin Neuf oder Legio Mariens. Ich würde auch die Bewegung Night Fever zu diesen Gemeinschaften rechnen, die Gemeinschaft Emmanuel oder das Gebetshaus Augsburg. Diese Gemeinschaften und Einrichtungen verstehen sich als neue Aufbrüche. Wichtig für ihre Spiritualität sind eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus, ein bestimmtes Verständnis von Jüngerschaft und vom Glauben. Es geht meistens um eine klare ethische und theologische Orientierung. Wir erleben auch eine bestimmte Praxis des Gebets, oft Lobpreis, eine bestimmte Ästhetik, professionelle Mediennutzung und eine Tendenz zum Event und zum emotionalen Erlebnis.

Schwab: Das Mission Manifest ist aktuell die bekannteste missionarische Initiative in der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum. Es wurde auf der MEHR-Konferenz 2018 von den Herausgebern Johannes Hartl, Karl Wallner und Bernhard Meuser vorgestellt, erhielt durch die Unterstützung bekannter Kirchenvertreter wie Rainer Maria Kardinal Woelki oder Bischof Stefan Oster medial Aufmerksamkeit und erreichte Platz 16 der SPIEGEL-Bestseller Liste. Die Autor*innen des Buches fordern eine Neuausrichtung der Kirche und eine finanzielle sowie personelle Konzentration auf Mission. Die Diskussionen um das Mission Manifest waren nach der Veröffentlichung des Buches im theologisch-akademischen Diskurs virulent, da einige Theolog*innen dieses Manifest merklich kritisierten. Erachten Sie die Diagnose der Verfasser*innen des Mission Manifests, die Kirche spiele in wenigen Jahren kaum mehr eine wahrnehmbare Rolle, sowie die Therapie, Mission müsse Priorität Nummer eins werden, als richtig? 

Dr. Schönemann: Ich halte nicht viel von Panikmache, zum Beispiel, dass die Titanic am Sinken ist, ein Bild, das von den Autor*innen des Mission Manifests gerne bemüht wird. Ich glaube, dass Gott mit den Menschen Wege geht und seine Kirche nach wie vor begleitet und mit Leben erfüllt. Welche Formen sie allerdings in Zukunft haben wird, das ist noch einmal eine andere Frage. Ganz deutlich ist, dass eine bestimmte Gestalt von Kirche derzeit einen Niedergang erlebt. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass die Mitglieder*innenzahlen demografiebedingt, aber auch durch nicht mehr selbstverständliche Kindertaufe und Austritte mittelfristig stark zurückgehen werden. Es ist nicht das primäre Ziel von Mission, ein Comeback der Kirche zu generieren, wie es als Unterüberschrift unter dem Mission Manifest steht. Wenn wir über Mission reden, dann geht es weniger um die Wiederherstellung einer großen, mächtigen, mitgliederstarken Kirche, sondern um Authentizität. Wird durch unser Tun und Sprechen eigentlich etwas vom Reich Gottes deutlich und transportiert? Das kann man auch als Minderheit exemplarisch deutlich machen. Mission wäre dann gut verstanden, wenn man sich nicht bemüht, eine sichtlich vergangene soziale Gestalt von Kirche wiederherzustellen, sondern Wege zu finden, wie wir unseren Auftrag, das Evangelium zur Sprache oder zur Gestalt zu bringen, heute und morgen adäquat erfüllen können. Karl Rahner schrieb vor 50 Jahren, dass Diaspora nicht ein beklagenswertes und abzuwendendes Schicksal von kleinen Zahlen ist, sondern ein ,heilsgeschichtliches Muss‘[3], also ein Ausgestreutsein, das zum Kirchesein dazugehört und Kirche wieder zu ihrem Eigentlichen bringen kann. Damit meine ich keine gesundgeschrumpfte Elitekirche, die sich von ihrer Umgebung abschottet, wie das manche verstehen. Ich meine vielmehr eine Kirche, die klein und verwundbar sein kann, die aber den Weg Gottes in das menschliche Leben und sogar ins Leiden als ihren eigenen Weg begreift, die zu den Menschen ausgerichtet ist, um mit ihnen gemeinsam die Liebe und Nähe Gottes zu entdecken. Das Mission Manifestführt einem in Teilen träge gewordenen Mainstream-Katholizismus einen Gegenentwurf vor Augen und stellt unbequeme Fragen. Das ist erst einmal eine gute Einladung zum Diskurs. Im Mission Manifest mischen sich evangelikale und charismatische Sprach- und Denkmuster mit traditionellen katholischen Prägungen. Es wird sich zeigen, ob diese Spiritualität, die im Buch durchaus sehr vielfältig und nicht einheitlich daherkommt, einen Beitrag für ein zukunftsfähiges und an den sozio-kulturellen Entwicklungen der Gegenwart orientiertes Christentum leisten kann.Ich stimme zu, dass Mission eine stärkere Priorität braucht, aber eher im Sinne von Veränderung der Pastoral hin zu mehr Ehrlichkeit, zu religiöser Selbstbestimmung, zu mehr Ermöglichung von Freiheit, das Christsein auf neue Weise auszudrücken und zu leben.Das Mission Manifest schreibt außerdem von Gebieten, die (wieder) christianisiert werden sollen: ,Wir wollen, dass unsere Länder zu Jesus finden‘, „Das christliche Europa liegt nicht hinter uns, sondern vor uns“.[4] In der Missionsgeschichte war es meist verhängnisvoll, wenn ,Gebiete‘ für einen bestimmten Glauben exklusiv reserviert wurden, was in der späten Moderne unter dem Aspekt positiver und negativer Religionsfreiheit und religiös-weltanschaulich neutraler Staaten so nicht mehr ist. Wir reden nicht mehr über Gebiete, die christianisiert werden müssen. Es geht vielmehr um Menschen, die in ihrem Leben etwas von Gottes geheimnisvollem Leben entdecken können. Wenn Gebiete christlich werden sollen, schwingt immer die Gefahr identitär-exklusiver Vorstellungen mit. 

Schwab: Was kritisieren Sie darüber hinaus am Mission Manifest?

Dr. Schönemann: Das Mission Manifest ist keine homogene Einheit. Die zehn Thesen werden von zehn Autor*innen ausgefaltet und sind auch ein wenig disparat. Als Beispiel für meine Kritik nenne ich das Gebet. Sicher ist es gut, neu Erfahrungen mit dem Gebet zu machen. Wir brauchen Orte, an denen Christ*innen miteinander einüben, Gott zu preisen und sich und das, was sie erleben, vor Gott zu tragen. An diesen Orten können wir vielleicht auch in neuer Weise die Schrift als Begegnungsort mit Christus entdecken. Kirche kann einen Raum bieten, wo Menschen ihre eigene Berufung finden und ausprägen können. Es ist jedoch problematisch anzunehmen, dass die Qualität oder Quantität des Gebetes eine bestimmte Wirkung hat, weil das natürlich Gott in seinem Wirken festlegt. Im Mission Manifest wird das Gebet jedoch in einer sehr geprägten Form vor Augen gestellt, die man so nehmen kann oder auch nicht. Es ist jedoch problematisch, wenn der Eindruck entsteht, dass das Mission Manifest quasi der Masterplan für die Veränderung der Kirche in Deutschland ist. Und schließlich ist bei den Autor*innen zuweilen eine gewisse Abwertung der theologischen Reflexion wahrzunehmen. Es ist aber wichtig, den Glauben auch mit dem Verstand zu durchdringen. Man sollte Glauben nicht gegen Theologie ausspielen. Ein weiterer Punkt: Bei der starken Betonung der persönlichen Christusbeziehung kommen womöglich andere wichtige Aspekte eines christlichen Lebensvollzugs ein wenig zu kurz: so das Prophetische oder das Diakonische, also wie ich mich in die Gesellschaft einbringe. Christliches Leben ist letztlich mehr als nur die exklusive Beziehung ,des Jüngers zu seinem Meister‘.


[1] Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), ,Zeit zur Aussaat‘, Missionarisch Kirche sein. 26. November 2000 (Die deutschen Bischöfe, Nr. 68), Bonn 2000.

[2] Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), ,Gemeinsam Kirche sein‘, Wort der deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral. 01. August 2015 (Die deutschen Bischöfe, Nr. 100), Bonn 2015.

[3] Vgl. Rahner, Karl, Über die Gegenwart Christi in der Diasporagemeinde nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Ders., Schriften zur Theologie VIII, Freiburg 1967, 409–425. Ders., Theologische Deutung der Position des Christen in der modernen Welt, in: Ders., Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, Innsbruck 1961, 13–47.

[4] Prüller, Michael, Präambel, 21 – 52, in: Hartl, Johannes/Wallner, Karl/Meuser, Bernhard (Hg.), Mission Manifest. Die Thesen für das Comeback der Kirche, Freiburg 2018, 36f.

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